11. August 2012

Sight & Sound: The Greatest Films of All Time

Sie sind da! Seit ungefähr zwei Jahren freue ich mich darauf und nun ist es soweit: In der aktuellen Ausgabe von „Sight & Sound“ werden die Ergebnisse der alle zehn Jahre durchgeführten Umfrage nach den besten Filmen aller Zeiten präsentiert und genauestens analysiert. Die Top 10-Listen gelten in der Fachwelt aufgrund des Renommees der Zeitschrift und des Alters der Umfrage (seit 1952) als die aussagekräftigste Einschätzung dessen, was der ultimative Filmkanon ist bzw. sein soll. Auch außerhalb eines eingeschworenen Filmliebhaberkreises berüchtigt ist die Rolle von Orson Welles’ „Citizen Kane“ (1941), der die Liste seit 1962 anführt.
 
Das Prozedere war das folgende: Kritiker, Programmmacher, Akademiker, Verleiher, Publizisten und andere Cinephile (unter Regisseuren gibt es seit 1992 eine eigene S&S-Liste, deren Ergebnis ich zur besseren Lesbarkeit meines Beitrags und aufgrund ihrer geringeren Bedeutung hier nicht behandeln werde) wurden eingeladen, zehn Filme in beliebiger Reihenfolge zu nennen, die aus ihrer Sicht die besten sind. Die Definition dessen, was das Beste ist, wurde jedem persönlich überlassen – Kriterien konnten die Bedeutung für die Filmgeschichte, die ästhetische Bravur oder der Einfluss auf die jeweils eigene Sichtweise des Kinos sein. Im Gegensatz zu früheren Umfragen sollten Filme einer Reihe erstmals eigenständig behandelt werden (wie übrigens auch bei der von mir im Frühjahr durchgeführten Umfrage). Die Summe der zunächst nicht gereihten Nennungen eines Filmes ergab die Platzierung innerhalb der Liste. Die Zahl der Jurorinnen und Juroren wurde von S&S diesmal radikal erweitert: Statt 145 eingelangten Einzellisten im Jahr 2002 waren es dieses Mal 846 (insgesamt wurden ca. 1.000 Personen zur Teilnahme eingeladen), wobei auch eine bewusste Erweiterung des Spektrums angestrebt wurde. Aufgrund dieser höheren Teilnehmerzahl – es wurden dadurch insgesamt 2.045 verschiedene Filmtitel genannt – konnte die Liste von einer Top-10-Liste zu einer Top-100-Liste ausgebaut werden.

Die besten zehn Filme aller Zeiten laut diesjähriger Umfrage sind:
Platz 1: „Vertigo“ (1958, Alfred Hitchcock) [191 Nennungen]
Platz 2: „Citizen Kane“ (1941, Orson Welles) [157]
Platz 3: „Die Reise nach Tokyo“ (1953, Yasujirō Ozu) [107]
Platz 4: „Die Spielregel“ (1939, Jean Renoir) [100]
Platz 5: „Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen“ (1927, F. W. Murnau) [93]
Platz 6: „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968, Stanley Kubrick) [90]
Platz 7: „Der Schwarze Falke“ (1956, John Ford) [78]
Platz 8: „Der Mann mit der Kamera“ (1929, Dziga Vertov) [68]
Platz 9: „Die Passion der Jungfrau von Orléans“ (1927, Carl Theodor Dreyer) [65]
Platz 10: „Achteinhalb“ (1963, Federico Fellini) [64]

Die wohl bemerkenswerteste Tatsache dieses Ergebnisses ist der Umstand, dass die genannten Filme trotz der umfassenden Erweiterung und Veränderung der Jury im Prinzip die gleichen geblieben sind. Von den Filmen, die 1982, 1992 bzw. 2002 in den Top-10-Listen waren, sind fast alle dieses Jahr zumindest unter den Top 20. Große Ausnahme sind „Der Pate“ (1972, Francis Ford Coppola) und „Der Pate – Teil II“ (1974, Francis Ford Coppola), die durch ihre (zurecht erfolgte) Behandlung als zwei verschiedene Filme nun leider nur noch Platz 21 bzw. Platz 31 belegen (nach altem Schema wären sie auf Platz 7 gelegen). Von den diesjährigen Top 10 waren sieben auch in der letzten Liste vertreten, zwei weitere zwar nicht 2002, aber immerhin noch 1992, und lediglich ein Film, nämlich „Der Mann mit der Kamera“, noch nie unter den ersten zehn. In gewisser Weise ist dies schön, unterstreicht es doch auch die Aussagekraft der bisherigen Umfrageergebnisse.
Persönlich finde ich das Resultat der Umfrage äußerst spannend, lassen sich doch noch eine ganze Reihe von Beobachtungen anstellen. Von den Top 10 habe ich bisher leider nur vier Filme sehen können, was verhältnismäßig auch der Top-100-Liste entspricht (39 von 100 Filmen). Zwar wird meine Aufarbeitung in Kürze beginnen, doch wird hier bereits ein Problem der Liste (der bisherigen wie auch der gegenwärtigen) sichtbar, jenes der Zugänglichkeit. „Die Spielregel“ und „Sonnenaufgang“ sind derzeit beispielsweise gar nicht auf DVD erhältlich, andere Filme nur mit Mühen und zu nicht geringem Preis zu beschaffen.
Doch auch zwei Worte der Enttäuschung seien hier ausgesprochen. Zum einen betrifft diese die Alterstruktur der Filme. Ich bin auch der Meinung, dass sich Filme erst eine gewisse Zeit bewähren müssen, bevor sie ohne Bedenken in einen Allzeit-Kanon aufgenommen werden können. Dass der jüngste Film in den Top 10 aus dem Jahr 1968 ist, finde ich deshalb auch gar nicht so schlimm. Irritierend finde ich aber, dass die gesamten letzten 30 Jahre leicht unterrepräsentiert sind. In den Top 100 sind nur sechs Filme aus den 1980er-Jahren (nur drei nach 1982), fünf Filme aus den 1990ern und drei Filme aus den 2000ern; ergibt in Summe elf Filme der letzten 30 Jahre! Enttäuschend finde ich aber auch die ganz konkrete Reihenfolge der Top 10. Ich liebe „Citizen Kane“, hätte aber durchaus Verständnis für seine Ablöse haben können. Aber „Vertigo“?! Auch dieser ohne Frage ein guter Film. Doch schon unter den Hitchcock-Filmen bevorzuge ich einige andere, allen voran natürlich „Das Fenster zum Hof“ (1954). Keinesfalls aber ist „Vertigo“ meiner Meinung nach besser als „Citizen Kane“. Dieser hätte es durchaus verdient, von einem anderen Film vom Thron gestoßen zu werden!
Zum Abschluss möchte ich aber doch noch versöhnliche Töne anschlagen: Man mag solchen kanonischen Listen kritisch gegenüberstehen– gerade S&S ist hier durchaus sehr selbstreflexiv – aber unbestreitbar haben sie einen Aussagewert über das heutige Filmverständnis. Auch wenn man mit den Ergebnissen im Einzelnen oder im Gesamten nicht zufrieden sein mag, so lohnt es sich meiner Meinung nach für den filmliebenden Menschen doch, sie als Richtschnur für das eigene Betrachtungsprogramm heranzuziehen.
In der aktuellen Ausgabe (September 2012) widmet Sight & Sound der Umfrage ganze 32 Seiten, doch auch auf der Homepage der Zeitschrift kommt die Aufarbeitung mit Gesamt- und Detailergebnissen (inklusive sämtlicher Einzelnennungen, ab 15. August 2012) und Analysen nicht zu kurz.

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